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Von Mättenbach nach Mättenbach

Kraut & rüber

Von Mättenbach nach Mättenbach
photographiert von Beat Schweizer.

Kaum sind die letzten, von einer Bö verwehten Tropfen in mein Gesicht geprasselt, legen bereits die weit ausgreifenden Äste eines uralten Nussbaumes ihre schnurschlanken Schatten über mich; die Sonne bricht hervor. Unvermittelt schwebt leuchtend ein strotzend blaues Himmelsfenster über dem Weissenstein, schwergraue Wolkenschiffe verreisen ins Luzerner Hinterland, und ich biege von der schmalen Strasse hinter dem Hof auf einen Feldweg ab, der genau jetzt seinen grossen Auftritt hat. All der nasse Kies, der auf seinem Rücken liegt, glänzend wie frisch poliertes Silber, weist die beste Abkürzung auf dem Weg zur Sonne.

Obwohl es nicht stark bergan geht, atme ich heftig, komme kaum voran. Ich schleppe diesmal keinen Rucksack, aber einen Güllenschlauch. Dick wie ein Ochsenbein, dreissig Meter lang, vorne und hinten mit einem metallenen Flansch abgeschlossen, bringt das würzig duftende Stück wohl fünfzig Kilo auf die Waage.

Jeder Flansch ist mit einer Schnur verbunden, sechs Finger passen in die Schlaufe, von jeder Hand die stärksten drei, die anderen machen Pause.

Heute ist Tag 23 von 25 Arbeitstagen, die sich ohne einen freien Tag aneinanderreihen wie die Glieder eines Regenwurms. Die landwirtschaftliche Lehre, die ich absolviere, ist eine bunte Melange aus absurder Zumutung und hochkarätiger Bereicherung – gearbeitet wird, wenn es etwas zu tun gibt, also fast immer.

Auf diesem Weg gehe ich, wenn die Wiesen nicht zu nass sind, täglich viermal, um die zwölf Braunviehdamen, die das Rückgrat des Hofes bilden, auf die Weide zu bringen und zurück in den Stall zu holen. Nach vorne gebückt und heftig atmend schaue ich hinab auf ein Gras, das gut ohne zusätzliche Nährstoffe aus dem Güllenschlauch auskommt: das Einjährige Rispengras. Mit wenigen Ausnahmen ist es das einzige Gras überhaupt, das auf diesem stark von Kuhklauen betrampelten Feldweg gedeiht – kein anderes versteht es besser, mit wenig Nährstoffen und unvorteilhaften Standorten klarzukommen. Ist die Erde mit Pflanzen möbliert, so zählt es gewiss zu den Ikea-Gräsern: Es wächst schnell, pflanzt sich effizient fort, passt überall hin. Das Einjährige Rispengras ist wohl das bescheidenste Süssgras überhaupt; als wahrer Kosmopolit gedeiht es in den Gebirgen der Tropen nicht weniger als in der Antarktis. Auch ist es ziemlich nahrhaft. Mir schmeckt es zwar nicht besonders, ein Büschel Katzenhaare wird ähnlich sein, aber ich gebe zu: meine Nase ist abgelenkt.

Diesen Weg werden die Kühe nicht oft gehen müssen, bis die Büschel zertreten oder ausgerissen sind. So schnell, wie das Gras hier heranwächst, so rasch wird es also wieder verschwinden. Aber bis dahin schützt es mit vielen tausend Wurzeln den Weg vor Erosion, so wie es weltweit fast überall dafür sorgt, dass die Erde ungefähr dort bleibt, wo sie ist.


Urs Mannhart
ist Schriftsteller und Reportagejournalist. Zuletzt von ihm erschienen: «Bergsteigen im Flachland» (Secession, 2014). In seiner Kolumne «Kraut & rüber» bereist er die Welt und erzählt von Orten, Wegen und wilder Naturkulinarik.

 


Zwischen dem 5. und  9. Juli liest Urs Mannhart anlässlich der 41. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (Ingeborg-Bachmann-Preis).

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