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Von der Sehnsucht nach der Waldflucht

Sport schreiben & Wort treiben

Von der Sehnsucht nach der Waldflucht
Bild: zvg.

«Im Profitennis geht es also um Bewegungsabläufe, die so schnell sind, dass dem Spieler bewusste Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Wir befinden uns hier im Bereich von Reflexen, von unbewusst ablaufenden physischen Reaktionen.» – «Poesie in Bewegung», David Foster Wallace

Ich habe mir nie viele Gedanken darüber gemacht, wie andere Autoren es halten mit der Fitness oder welche Gründe sie haben, lieber zu schreiben, als Sport zu treiben. Natürlich kennt man David Foster Wallace und Christian Uetz, die Roger Federer vergötterten. Oder den Jørgen-Peter-Müller-Fan Franz Kafka, der sein Fitnessprogramm splitternackt am offenen Fenster stehend absolvierte. Aber landläufig stellt man sich Schriftsteller als bewegungsscheue Schreibtischwesen vor, deren am besten ausgebildete Muskeln sich in ihren Fingern befinden, mit denen sie ihre Sätze in Rechner klappern oder in Notizbücher schreiben. Für mich aber gilt: Sport und Literatur ergänzen einander, denn beide fördern Lust – und Kondition. Und sie motivieren, über sich hinauszuwachsen und sich ständig neue Ziele zu stecken.

Nachdem etwa neulich das Lektorat meines Debüts abgeschlossen war, beschloss ich, mich etwas intensiver mit «dem Betrieb» auseinanderzusetzen, dem ich bald angehören würde: Ich verordnete mir den Besuch von willkürlich ausgewählten Lesungen. Nach Jahren meines durch das Laufen mit Endorphinen befeuerten Schriftstellerinnendaseins sass ich auf einmal unter Menschen, die sich – wie ich – für Literatur begeisterten, mir aber gleichwohl fremd blieben. Sei es dort vorne, zwischen Wasserglas und Papierstapel, die Lesenden, deren einzige Bewegung das Öffnen und Schliessen der Lippen war. Oder hier, das Publikum mit seinen kunstvoll abgestützten Kinnladen, die den Bewegungsradius der Vorlesenden unterboten.

In meinen Füssen begann es nach zehn Minuten zu kribbeln.

Ich musste an den Wald denken, an meine Joggingstrecken. An den Fluss. An die quirlige alte Dame mit ihrer Dogge. Jetzt einfach mal in einem Meer von Bärlauchduft aus der Puste zu kommen! Kieselsteinchen unter meinen Asics knirschen zu hören! Über den Asphalt zu federn, bis es Blasenpflaster braucht! An alles Mögliche liess die Lesung mich denken. Nur nicht an Literatur. Wonach ich mich sehnte, verbarg sich in der Natur oder im Schreiben von Sätzen, nicht zwischen diesen Stuhlreihen. Dies war nicht das Literaturleben, für das ich so viel geschrieben hatte.

Der Drang, aufzustehen, wurde immer stärker. Ehe ich mich versah, bahnte ich mir einen Weg vorbei an all diesen eng aufeinander sitzenden, kennerisch verschränkten Beinen. Energische Bewegung fuhr ins Publikum: das Schütteln von Köpfen, das Wedeln von Zeigefingern. Ich liess Entschuldigungen plumpsen und starrte aufs Smartphone, als sei mein Verleger dran oder der Geist von Marcel Reich-Ranicki. Auf dem Weg zur Tür verfiel ich in leichten Trab. Es war alles gut. Hinter mir brandete Applaus auf. Vielleicht verstehen sie mich ja doch, dachte ich, als ich die Tür aufriss.

 

 

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