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Paris, einfach

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Buch des Monats

Es ist immer wieder erstaunlich, wie in Interviews aus ganz hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern naive Einfaltspinsel werden. Jüngstes Beispiel: Virginie Despentes. Die ehemalige Pornofilmkritikerin, Plattenverkäuferin, Regisseurin und mehrfach und zu Recht ausgezeichnete Schriftstellerin, seit 2016 Mitglied der Académie Goncourt, durfte anlässlich der Frankfurter Buchmesse den dortigen Auftritt Emmanuel Macrons im «Spiegel» kommentieren und nutzte diese Chance in verblüffender Weise: Despentes, so erfahren wir in dem kurzen Gespräch, hält ihre eigenen Positionen für «klassisch sozialistisch», ihren Präsidenten deshalb für einen «Ultraliberalen», der Frankreich nach dem «Vorbild Spaniens» (!) ruinieren werde. Mit einer Einschränkung: «Der Gedanke, Ideen für Europa zu finden», sei «gut». Für sie ginge es dabei aber vor allem «darum, zu teilen». In der Folge darf sie von netten «linken Nationalisten» aus ihrer Wahlheimat Katalonien berichten, die – für sie offenbar wirklich überraschend – heuer zu «linken Rassisten» geworden seien, und das natürlich, weil «Rechte» (!) sie verführt hätten, wobei doch «Puigdemont bis vor kurzem noch ein harmloser Konservativer» (!) gewesen sei.

Nachdem schon ihr Kollege Didier Eribon, in diesem Jahr als aufgehender Stern am intellektuellen Himmel Frankreichs gefeiert, beleidigt seinen Besuch der Messeeröffnung abgesagt hatte, kommt man nach diesen politphilosophisch abschüssigen Überlegungen einer französischen Starautorin nicht umhin, sich um die literarische Elite Frankreichs und ihre An- und Einsichten zur Gegenwart ernsthafte Sorgen zu machen. Klar: wer von ganz links auf die Gesellschaft schaut, sieht nur Rechte und Ultrarechte – ist ja auf der anderen Seite nicht anders. Bemerkenswert ist aber, dass Despentes offenbar keine Sekunde an ihrer Position und ihren Kategorien zweifelt, obschon ihr jüngst auf Deutsch erschienener Roman «Das Leben des Vernon Subutex» sich durch die Brechung dieses weitverbreiteten Wahrnehmungsmodus auszeichnet: er beleuchtet ein Milieu, den Pariser Kulturbetrieb, aus verschiedenen Optiken, die – zwar völlig überzeichnet, aber deshalb ja nicht falsch – sich kaleidoskopisch zu einem Ganzen fügen.

Vernon Subutex war Mitglied einer Punkband, dann Plattenverkäufer – und heute schwant ihm, dass er ein Niemand zu werden droht. Er gammelt herum, zehrt sozial von seinem schwindenden Ruf der Unangepasstheit und hat zu Beginn des Romans schon jahrelang auf Kosten von Freunden gelebt. Als diese in rascher Folge das Zeitliche segnen, verscherbelt er Memorabilia aus aktiver Zeit oder versucht es zumindest (darunter das Enthüllungs-Abschiedsvideo seines Freundes und langjährigen Financiers, bevor auch dieser sich das Leben nimmt), wird aber trotzdem bald obdachlos. Da ist das Buch gerade wenige Seiten alt. In der Folge zieht Subutex durch Paris, schläft mal bei diesem alten Freund, mal bei (und mit) jener alten Freundin, hat für die meisten seiner Bekanntschaften aber bloss Neid, Hass und Undankbarkeit übrig. Der Roman erzählt nach und nach immer mehr dieser Episoden aus der Sicht seiner vermeintlichen Freunde, enthüllt, dass auch diese mit ihrem ehemaligen Idol nur noch die Nostalgie für bessere Tage teilen.

Das liest sich nicht nur zügig, scharfzüngig und durchaus auch auf tragische Weise belustigend. Nach dieser Lektüre will man die beschriebene Szene, der Despentes notabene selbst angehört, als intellektuell, sozial und politisch verwahrlost bezeichnen. Aber Vorsicht: in dieser Gemengelage ist keinem Erzähler und keiner Erzählerin länger als wenige Seiten über den Weg zu trauen, denn meist wird die scheinbar valable Sicht aufs Ganze schon bald von einer anderen zunichte gemacht oder mindestens neu kontextualisiert. Anders als in Eribons trister «Rückkehr nach Reims» wird das «Subutex»-Personal auch nicht ständig politisch eindeutig schubladisiert – und wo das doch einmal passiert, geschieht es mit Hilfe von wenig verlässlichen Fremdzuschreibungen oder wird irgendwann gar ad absurdum geführt. Das so entstehende, sich immer weiter verästelnde Sittengemälde ist also das Gegenteil eines «Monomythos» (Rorty), mithin eine Warnung vor intellektueller Trägheit in Form von Group-Think, allumfassender Identitätspolitik und Vulgärpolitologie – und es passt so überhaupt nicht zum von Despentes im «Spiegel» artikulierten Weltbild, das sich aus wenigen grob gezimmerten Schubladen für politische Haltungen zusammenzusetzen scheint.


 

Michael Wiederstein
ist Chefredaktor des «Schweizer Monats» und des «Literarischen Monats».


Buch: Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2017.

 

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