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In der Gegenwart gefangen

Trotz vieler verschlossener Archive hat die Schriftstellerin Anna Kim neue Dokumente zum Koreakrieg erschlossen. Wie schreibt es sich über die Geschichte zweier Länder bei ungesicherter Faktenlage? Und wie für ein Publikum, das kaum etwas über diese Weltregion weiss? Ein Gespräch über Quellenlagen, Erzählperspektiven und: Gut und Böse.

In der Gegenwart gefangen
Anna Kim, photographiert von Daniel Hofer / laif.

Frau Kim, in der deutsch- und englischsprachigen Gegenwartsliteratur – sagen wir: seit etwa 20 Jahren – gibt es erstaunlich viele «Enkelromane», in denen sich Autorinnen und Autoren aufmachen, herauszufinden, ob und was ihre Grosseltern im Zweiten Weltkrieg verbrochen oder erlitten haben. Beobachten Sie in der koreanischen Literatur etwas Ähnliches im Hinblick auf den Koreakrieg?
Schon die Romane der 1950er und ’60er Jahre haben sich sehr stark mit dem Koreakrieg auseinandergesetzt. Aber das war damals zu früh, um ihn so richtig zu verstehen, was übrigens auch die koreanischen Geschichtswerke prägt: der Koreakonflikt wird immer nur aus einer koreanischen Perspektive geschildert und nicht aus einer globalen. Diese starke regionale Bezogenheit ist hinderlich, weil man den Koreakrieg wirklich nicht versteht, wenn man sich nur Nord- und Südkorea ansieht. Die USA und die Sowjetunion haben eine so unglaublich grosse Rolle gespielt, und überhaupt der Kalte Krieg, der Kommunismus, der Antikommunismus. Erst wenn man das alles weiss, begreift man das Ausmass und versteht, warum der Koreakrieg unweigerlich ausbrechen musste.

Sie waren zwei Jahre alt, als Ihre Familie 1979 aus Südkorea ausgewandert ist, erst nach Deutschland, dann nach Österreich. Lesen Sie in Koreanisch?
Ja, aber nicht sehr gut. Ich habe für «Die grosse Heimkehr» einige Übersetzungen gelesen, es gibt allerdings leider nicht so viele ins Deutsche. Und zum Teil sind sie auch nicht so gut – weil sie recht anthropologisch sind.

Was meinen Sie damit?
Übersetzungen, die mit kleinen «ethnologischen» Erklärungen angereichert sind, also warum «die» das jetzt «so» machen. Die englischen Übersetzungen, die auch literarischer sind, finde ich besser. Da habe ich einiges an Standardwerken der modernen koreanischen Literatur gelesen, aber als besonders spannend empfand ich die Geschichtswerke aus der jüngeren Vergangenheit: Sie beziehen die westliche und die östliche Welt mit ein, tun also, was die älteren Texte – egal, ob sie nun literarische oder historische Aufarbeitungen sind – kaum gemacht haben. Es wäre schön, wenn es diese «Enkelromane» mit einer erweiterten Perspektive jetzt vermehrt gäbe, ich zweifle aber, dass sie bald erscheinen werden.

Woran kann das liegen?
Es ist auch heute noch in der koreanischen Gesellschaft sehr schwierig, über die Kolonialzeit, den Koreakrieg und die Zeit der grössten antikommunistischen Verfolgungen offen zu sprechen. Die Traumata sind einfach zu gross und folgenschwer. Das gelingt nur, wenn man wirklich sehr gut miteinander befreundet ist – und auch nur hinter vorgehaltener Hand.

Ich habe das Buch gelesen und sehr viel gelernt, vor allem was die Geschichte Koreas angeht – ich war aber auch sehr froh, dass ich nicht bei null anfangen musste. Das wird nicht allen Lesern so gehen.
Ja, die Konstruktion ist anspruchsvoll, das war mir bewusst. Ich habe aber auch irrsinnig viel wieder gestrichen. Sonst wäre es ein 1000seitiger Roman geworden. Mich hätte das natürlich nicht gestört, aber… (lacht).

Wie haben Sie entschieden, welche Eckdaten Sie mitgeben und welche Sie weglassen?
Ich hatte ursprünglich noch viel mehr im Buch: den Imperialismus in Ostasien, weil der sehr wichtig ist, um die Kolonialpolitik Japans zu verstehen. Auch die Geschichte Chinas und die Rolle Grossbritanniens in China spielen eine wichtige Rolle – davon ist am Ende nur eine Zeile übriggeblieben. Auch der Antikommunismus in den USA und die Diskussionen um den Präsidentschaftswechsel fielen wieder heraus. Mir ist der Platz irgendwann ausgegangen. Also setze ich voraus, dass der Leser weiss, wie Schanghai aufgeteilt wurde, dass es aufgeteilt wurde, und was es mit dem Boxeraufstand auf sich hat. Doch ich wusste, ich muss die japanische Kolonialpolitik irgendwie hineinbringen – in Korea speziell –, damit man versteht: die politischen Strukturen, die damals angelegt wurden, haben die Amerikaner in der Übergangszeit 1945–1948 übernommen. Kurz gesagt: ich habe noch nie so stark aus der Warte des Publikums gedacht.

Erfolgte der Entscheid, die Geschichte der beiden Koreas kurz nach der Trennung an fiktionalen Figuren zu erzählen, auch in Rücksicht auf die Leserschaft?
Die ursprüngliche Frage für mich lautete: Wie schreibe ich über Geschichte? Oder: wie stelle ich historische Ereignisse dar? Ich denke, es gibt, grob gesagt, zwei Methoden: die der reinen Beschreibung, der Deskription, und die der Reflexion. In diesem Fall griff mir die Deskription einfach zu kurz – und kam mir auch sehr platt vor. Meiner Meinung nach reicht es nicht, Ereignisse aneinanderzufügen, wenn man über Geschichte schreibt. Deshalb habe ich die Figur des Yunho auch so angelegt, dass er die ganze Geschichte aus einer grossen zeitlichen Distanz erzählt. Er reflektiert am Ende seines Lebens über das, was er als junger Mann erlebt hat.

Mit Hanna, einer koreanischstämmigen Deutschen, kommt aber eine zusätzliche Ebene hinein: Yunho erzählt, Hanna hört zu. Gehört das auch zur Methode?
Ich fand es sehr interessant, zwei Menschen, zwei Fremde, einander auf diese Weise begegnen zu lassen, wobei ich ganz klar definiere, wer zuhört und wer spricht. Meine Mutter hat mir oft die Geschichte ihrer Familie erzählt mit dem Hintergedanken, dass ich auf diese Weise auch etwas über mich erfahre. Ich finde das extrem spannend und habe deshalb die Beziehung von zwei Aussenseitern der Gesellschaft dargestellt: Hanna, die glaubt, keine Heimat zu haben, aber eigentlich eine hat, und Yunho, der offiziell eine Heimat hat, aber von den Menschen dort ausgestossen, ja sogar eine Zeit lang von ihnen verfolgt wurde. Deswegen erklärt Yunho auch so viel, nicht nur der Zuhörerin, von der er annimmt, dass sie nichts weiss, sondern auch sich selbst, der eigentlich auch nicht alles weiss, nicht alles versteht.

Ist die Geschichte Ihrer Mutter ebenfalls mit in den Roman eingegangen?
Zum Teil, ja, aber auch mein Onkel, der noch immer in Südkorea lebt, hat mir viel aus der Zeit erzählt. Er ist ungefähr so alt wie Yunho. Es ist sehr viel Erzähltes und sehr viel Persönliches an Familiengeschichte eingeflossen.

Konkreter?
Die Familie meiner Mutter war sehr vermögend, deswegen auch Ziel der Kommunisten, der Volksarmee. Die Passage, in der auf allen Möbeln die Zettel mit «enteignet» aufgeklebt sind, hat mir meine Mutter erzählt. Oder dass die gesamte Bibliothek meines Grossvaters zerstört wurde. Das kommt in Geschichtsbüchern nicht vor, sehr wohl aber die Information, dass die Volksarmee eigentlich auch eine politische Aufgabe hatte, nämlich das Volk ideologisch auszubilden. Und diese zwei Fakten ergänzen einander: dass sie das alte Wissen zerstörten, um ein neues aufzubauen. Es ist interessant, beide Gesichtspunkte zu haben – die informelle und die formelle Geschichte.

Es gibt die Stelle, an der Yunho etwas entschuldigend meint: «Sie müssen verstehen, ich bin mit der Illusion aufgewachsen, es gebe [die Wahrheit] und es gebe bloss eine.» Gilt diese Verabschiedung der Wahrheiten spezifisch für Geschichtsschreibung?
Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine vollständige Geschichtsschreibung überhaupt geben kann. Ich habe auch ein Buch über die Folgen des Jugoslawienkriegs geschrieben, und da wurde erst diesen Sommer das Urteil vom Schiedsgericht verkündet, dass ein Teil der Küste, den Kroatien bisher besetzt hatte, an Slowenien gehen soll – was wiederum alte Konflikte hervorzurufen droht. Geschichte verändert sich ständig. Das müsste man berücksichtigen, wenn man Geschichtsschreibung betreibt: anzuerkennen, dass man in einer Zeit – in der Gegenwart – gefangen ist und viele Dinge auch einfach nicht oder noch nicht weiss, weil sie noch in den Archiven verschlossen sind. Das Problem stellte sich übrigens auch bei diesem Buch: die russischen Archive sind verschlossen, ebenso die südkoreanischen, japanischen und amerikanischen. Wenn man sie alle öffnet, wer weiss, was dann ans Licht kommt! Man müsste wohl sämtliche Bücher neu schreiben.

Das beträfe dann aber auch Ihr eigenes Buch.
Ja, natürlich!

Was also leisten Archive? Worin besteht ihre Auszeichnung vor anderen Quellen?
Hm! Das ist eine gute Frage. Einerseits übernehmen sie das Bewahren von Wissen für die zukünftigen Generationen. Andererseits sind sie auch Dokumentationsstätten. Sie dokumentieren rechtliche Prozesse und archivieren politische Dokumente. Sie sind nicht zuletzt gefährlich: wenn man sie öffnet, präsentiert sich womöglich eine Wahrheit, die man zu verschleiern versuchte. Mich haben Archive schon immer interessiert – weil sie gebraucht werden, aber auch gefürchtet sind.

Zurück zu Ihrem Roman «Die grosse Heimkehr». Wir haben vorhin gesagt, man müsse Geschichte aus vielen verschiedenen Perspektiven beschreiben – Sie tun dies durch die drei Freunde Eve, Johnny und Yunho, die sich um 1960 in Seoul aufhalten. Eve ist das «amerikanische Klischee einer Koreanerin», die sich nur am Westen orientiert und ihren Liebhaber Johnny tauft. Dieser wiederum ist der Kindheitsfreund von Yunho. Und Yunho ist durch seinen grossen Bruder für die Interessen der kommunistischen Seite offen. Sie schildern diese Zeit sehr detailreich und es scheint: die Aufteilung in das «gute» Südkorea und das «schreckliche» Regime im Norden war nicht immer so eindeutig?
Ich ärgere mich oft, dass in der Nordkorea-Berichterstattung bei uns im Westen die Geschichte immer so verkürzt dargestellt wird. Es stimmt: das nordkoreanische Regime ist ein furchtbares Regime, und es wird auch immer klarer, wie furchtbar es ist. Aber ich finde auch, man sollte wissen, wie es dazu kam. Und es war wirklich so, dass nicht immer klar war, welche Seite eigentlich die «gute» ist. In den 1950er und ’60er Jahren sah es eher so aus, als wäre die kommunistische Seite die bessere, da Nordkorea damals das bessere Image hatte. Im «Spiegel» zum Beispiel wurde lange bezweifelt, dass der Norden den Koreakrieg begonnen hat.

Die Rollen waren damals also vertauscht?
Die Frage lautete eher: ist die Militärdiktatur Südkorea, die von den USA so stark unterstützt wird, nicht auch schrecklich? Das war – vor nicht allzu langer Zeit – eine heikle Frage. Heute muss man aber ganz deutlich sagen, dass sich Südkorea sehr stark entwickelt hat. Und wenn man sich anschaut, wer die letzten Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, kann man feststellen, dass die Demokratie bis zu einem gewissen Grad zu funktionieren scheint.

Obwohl Südkorea bereits bei der Wahl der letzten, kürzlich wegen Korruption abgesetzten Präsidentin Park Geun-hye als gestandene Demokratie anerkannt war.
Ja, ja, natürlich. Das ist gerade das Interessante an der Demokratie in Südkorea – und da würde ich Südkorea wirklich als Beispiel nehmen für ein Land, das zuerst eine Kolonialgeschichte, dann eine postkoloniale Geschichte und dann den Schritt zur Demokratie innerhalb einer sehr kurzen Zeit durchgemacht hat. Und dann auch noch ein Wirtschaftswunder angehängt hat! Das ist ziemlich heftig. Für diese schnelle Entwicklung ist Korea tatsächlich typisch und auch ein Vorbild für viele postkoloniale Länder, die allerdings nicht alle den Schritt in die Demokratie schaffen.

Haben Sie sich gefragt, ob sich die verschiedenen «Wunder» gegenseitig positiv beeinflusst haben?
Der Hunger nach Bildung, den ich auch im Roman darzustellen versucht habe, hängt sicher mit dem konfuzianischen Erbe zusammen. Das bildet ein Fundament der süd- und nordkoreanischen Gesellschaft. Ich glaube aber auch, dass Demokratie ohne einen gewissen Bildungsstand überhaupt nicht möglich ist.

Im Buch schildern Sie die Zeit unter dem ersten südkoreanischen Präsidenten Syngman Rhee. Darauf folgten drei Jahrzehnte Militärdiktatur, zunächst unter Park Chung-hee, dem Vater der erwähnten Expräsidentin. Verfolgen Sie die aktuellen Geschehnisse in Südkorea und können Sie sich aufgrund Ihrer Recherchen gewisse Entwicklungen – Korruption, Vetternwirtschaft usw. – besser erklären?
Wenn man sich die südkoreanische Politik seit, sagen wir mal, 1945 ansieht, reiht sich eine Intrige an die andere. Darüber könnte man mehrere Politthriller schreiben und müsste dazu nur erzählen, was passiert ist. Es sind immer ganze Fraktionen, die hinter einer einzelnen Persönlichkeit stehen. Die Tatsache, dass jemand wie Park Geun-hye überhaupt an die Macht kommen konnte – bei dem Vater –, das war schon ziemlich überraschend. Oder eben auch nicht! Ich habe mit sehr vielen Koreanern über die Zeit unter Park Chung-hee gesprochen. Alle meine Gesprächspartner haben ihn verabscheut, unter anderem weil er durch das Prinzip der Mitschuld von Familienangehörigen die Opposition bis in die Gegenwart hinein zerstört hat. Auch weil jeder, der anderer Ansicht war, jeder, der irgendwie links, oder jeder, der auch nur einen Hauch Kommunismus, eigentlich Sozialismus, um sich hatte, mundtot gemacht wurde. Er hat die Bevölkerung als billige Gastarbeiter scharenweise, wie soll man sagen, ja… verkauft. Trotzdem fällt eine vollkommene Verurteilung schwer: er hat das Wirtschaftswunder initiiert. Er hat Fabriken und Industrieanlagen gebaut. Er hat die Amerikaner zum Teil ausgetrickst. Er ist eine sehr schillernde, schwierige Figur. Und genau das ist Geschichte! Ich glaube, dass unsere Tendenz, heute Dinge in «gut» und «böse» einzuteilen, zu kurz greift.

Diese Tendenz gab es doch schon immer!
Stimmt. Aber ich habe den Eindruck, dass sich das immer mehr verstärkt. Heute wird die Reaktion «Moment, so einfach ist das nicht» oft negativ aufgenommen. Es gibt kein «Jein» oder «Ja, vielleicht» mehr. Diese Einschränkungen, diese Grauzonen, die mir so viel bedeuten, werden weniger. Ich frage mich aber auch, ob das nicht eine temporäre Entwicklung ist – ob nicht die Generation, die jetzt mit dem Internet aufwächst, eine ganz andere Beziehung zu dieser Eindeutigkeitsmaschine entwickelt, die das Netz momentan ist. Gleichzeitig wird unsere Gesellschaft stärker überwacht, nicht nur virtuell, auch real: wo wir gehen und stehen, sind Kameras…

Auch den Figuren Eve, Johnny und Yunho droht im Seoul um 1960 die permanente Überwachung.
Die Überwachung ist ein Symptom, zugleich ein Mittel der Machtsicherung des Regimes. Ein Regime, das im Falle Koreas auch eine neue Identität für das Land finden musste und im Antikommunismus fündig wurde. Yunhos Generation hat unter der Zerstörung der eigenen Identität durch die Japaner und dem damit verbundenen Wertverlust sehr gelitten. Diese Wunde war in den 1960er Jahren noch offen – zumindest habe ich das an meinen Eltern beobachten können. Es ist die Tragik, die hinter jeder Kolonialherrschaft steckt – nicht nur der koreanischen.


Das vorliegende Gespräch fand im Rahmen des diesjährigen Literaturfestivals Leukerbad statt. Wir danken den Organisatoren für die freundliche Vermittlung.


Anna Kim
ist österreichische Schriftstellerin. 1977 in Südkorea geboren, zog sie 1979 mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland und 1984 nach Wien. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, wie 2012 den Literaturpreis der Euro-päischen Union. Zuletzt von ihr erschienen: «Die grosse Heimkehr» (Suhrkamp, 2017). Anna Kim lebt in Berlin.


Serena Jung
ist Redaktorin dieser Zeitschrift.

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