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Gestern wir gehen Bar

UNÜBERSETZBAR #2

Als der aus Trinidad stammende Schriftsteller Samuel Selvon 1956 mit seinem Roman «The Lonely Londoners» den ersten karibischen Einwanderern in England eine Stimme gab, schrieb er sich auch deshalb in die Literaturgeschichte ein, weil er das kreolisierte Englisch zur Literatursprache erhob. Ein un­erhört politischer Akt und bis heute Gegenstand zahlloser Abhandlungen über post­koloniales Erzählen.

Dialekt mit Dialekt zu übersetzen, ist tabu, Dialekt mit Um­gangs­sprache zu übersetzen, ist feige, lautet ein Leitspruch. Zwar haben wir es hier nicht mit Dialekt zu tun und auch nicht mit einer Migrantensprache, sondern mit dem Idiom, das die karibischen Einwanderer aus ihrer Heimat mitgebracht haben, doch in diesem Spannungsfeld bewegt sich die Frage, wie Selvon auf Deutsch klingen könnte. Eins zu eins übersetzt würden wir mit den vereinfachten grammatischen Strukturen des Originals bei Kiezdeutsch landen («Yesterday we go bar» – «Gestern wir gehen Bar»), aber für Selvons einsame Londoner verbietet sich jede konkrete Verortung im deutschen Sprachraum; auch auf Deutsch bleiben sie Londoner. Und einsam.

Und kiebig. Kreativ. Selbstironisch. Sie bereichern ihre Sprache durch Abweichungen vom Standard, die oft logischer und griffiger sind als die konventionalisierten Wendungen. Wenn also zu viele Mokkas ins Land fallen und sich gerade Schnur den Wohlstaat ranreden, verspucken sie den anderen die Suppe, und die Lage wird konkret spitz, da kann man sich gar nicht wieder auffangen und kriegt Tatsache Miesmut. (Das ist kein Zitat, sondern eine komprimierte Sammlung einiger mit Abweichungen spielender Wendungen im deutschen Text.)

Aber was wird da eigentlich übersetzt? Sam Selvons Anmas­sung, sein kreativer Angriff auf die Herrschaftssprache hat einen Referenzrahmen, und der ist aus Sprache gebaut – Englisch. Deutsch kann kein Englisch, aber es kann sich an­stecken lassen von der subversiven Lust am Regelverstoss, die der Roman zelebriert. Lost in translation? Klar. Found in translation?

Unbedingt.

 


Miriam Mandelkow
lebt als Literaturübersetzerin in Hamburg. Ihre Übertragung von Samuel Selvons «Lonely Londoners» ist 2017 unter dem Titel «Die Taugenichtse» bei dtv erschienen. Zuletzt erschien ihre Neuübersetzung von James Baldwins Debütroman «Von dieser Welt» (dtv, 2018).

 

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