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«Ein guter Text ist ein Destillat, ein Whisky»

Nahaufnahmen aus der Provinz, hybride Sprachbilder und kernige Menschengestalten – sie machen Arno Camenischs literarischen Kosmos aus. Im Gespräch gibt der preisgekrönte Jungschriftsteller Auskunft über Freundschaft, Heimat und Vergänglichkeit.

«Ein guter Text ist ein Destillat, ein Whisky»

Arno Camenisch, im Zentrum Ihres neuen Buches «Fred und Franz» steht eine Männerfreundschaft. Gab es einen speziellen Anlass, sich literarisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Jeder von uns hat Menschen, die einem nahestehen und einen begleiten – egal ob Mann oder Frau –, Menschen, die da sind, unabhängig davon, wie es rundherum stürmt. Sie sind die Kon-stanten im Lauf der Zeit. Im Grunde geht es mir nicht um eine Männerfreundschaft. Die zwei, Fred und Franz, verhandeln die Liebe und den Tod. Mich interessiert vor allem, wie sie das machen.

Wird dann der Leser, der Fred und Franz begleitet und belauscht, nicht zum Voyeur?

Nein, Voyeurismus interessiert mich nicht. Mich beschäftigen in «Fred und Franz» verschiedene «Codes» der Kommunikation und auch des Verhaltens. Mal reden die zwei aneinander vorbei, mal umeinander herum, mal hören sie sich zu und mal tun sie nur so, als ob sie das machen würden. Es sind ästhetische Fragen, die mich umtreiben, Varianten, Bewegungen im Gespräch und Mechanismen des Dialogs. Arbeitete ich in «Ustrinkata» noch mit mehreren Stimmen, habe ich «Fred und Franz» auf zwei Stimmen reduziert. Und dann ist da noch die Stimme des Erzählers, der mit den beiden mitgeht. Ich erzähle gerne Geschichten. Am liebsten mag ich die Geschichten, die sich auf der «Möglichkeitskante» bewegen. Das heisst: Geschichten, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie jetzt stimmen oder doch nicht – es könnte sein, aber vielleicht auch nicht.

Wie sind Sie zu dieser Geschichte gekommen?

Vielleicht müssten wir von Geschichten reden, im Plural, denn in der Rahmengeschichte werden viele Geschichten erzählt. Die besten Geschichten kommen, kurz bevor ich einschlafe. Da liegt man da, die letzten Sekunden, bevor man über die Klippe kippt, und da flattert ein Gedanke schön wie ein Schmetterling einem durchs Hirn. Und schon schläft man ein. Und wenn die Geschichten am nächsten Tag noch da sind, tutto bene. Und wenn nicht, tant pis. Das Hirn ist glücklicherweise so angelegt, dass es Unwesentliches wieder löscht. Das ist nicht nur beim Schreiben ein Segen, auch im Leben.

Das Vergessen, meinen Sie?

Ja. Und auch beim Schreiben geht es doch vor allem darum, dass man das Richtige rausstreicht. Das ist eine Kunst für sich, das Streichen.

Vor dem Streichen kommt das Schreiben. Wie müssen wir uns bei Ihnen also die konkrete Schreibarbeit vorstellen?

Das Schreiben beginnt bei mir stets mit einem Bild, mit einer Szene. Ich habe einen Clip im Kopf, den ich in Sprache übersetzen will. Das erste Bild in «Fred und Franz» war diese absurde Situation der zwei Männer, die da abends im Winter auf dem stillstehenden Sessellift festsitzen. Sie können entweder runterspringen und sich die Beine brechen, oder sie können sitzen bleiben und erfrieren. Es gibt keinen Ausweg. Das Schreiben passiert also zuerst im Kopf. Wenn die Geschichte dort fertig ist, fange ich an zu schreiben. Das kann lange dauern, bis ich mich endlich an den Schreibtisch setze. Es braucht Geduld, und diese Zeiten gilt es auszuhalten. Denn die Bilder müssen sich zuerst setzen, das Wesentliche muss sich herausdestillieren. Ein guter Text ist ein Destillat, ein Whisky.

Sind Sie beim Schreiben sehr kritisch mit sich selbst?

Ja, das bin ich. Und ich bin ein ungeduldiger Mensch. Essentiell fürs Weiterkommen sind stets auch die Zweifel, die man beim Schreiben hat. Man spielt alles x-mal durch im Kopf, versucht, die Geschichte von verschiedenen Seiten her zu sehen. Beim Schreiben konzentriere ich mich auch stark auf die mikrotextuelle Ebene. Ist ein Text «durch», also in den Details präzis gearbeitet, bekommt er erst eine Leichtigkeit und Natürlichkeit. Manchmal ist es ein Murks, bis jedes Wort sitzt. Und man kommt nie ganz an das heran, was man sich im voraus vorstellt – die Bilder im Kopf sind immer grösser.

In Ihren Büchern erscheinen immer wieder literarische Figuren, die reale Vorbilder haben. Gibt es auch für Fred und Franz solche Vorbilder?

Die Impulse für Figuren hole ich mir aus dem Alltag. Plötzlich gibt es diesen Moment, pamf, es macht einen sofort hellhörig, wie kürzlich, als ich jemandem beim Essen zuschaute, köstlich, wie sich diese Person hingab. Wenn ich ein Buch lese, langweilt es mich bis auf die Unterhosen, wenn da eine Figur lang und breit über ganze Seiten beschrieben wird. Eine Figur muss man mit wenigen Strichen zeichnen können. Und eine Figur muss eine Stimme haben.

Können Sie das genauer erklären?

Wir tragen unser Leben im Gesicht und in der Stimme. Ein «purtger» Schweinehirt, der redet nicht wie ein Professor, auch wenn beide mit einem «P» beginnen. Ich befasse mich in meinen Büchern mit der Art, wie die Figuren sprechen, mit der Mündlichkeit und der Verschriftlichung dieser Mündlichkeit. In «Fred und Franz» interessiert mich auch die Lakonik des alltäglichen Gesprächs.

Zwischen Ihren Werken gibt es zahlreiche Querverweise, gewisse Figuren tauchen in mehreren Büchern auf und auch Sie selber haben ein paar Cameo-Auftritte – arbeiten Sie an einem Kosmos, der über die einzelnen Bücher hinausgeht? 

Mit jedem zusätzlichen Buch wird der Kosmos etwas grösser. Plötzlich sitzt da hinter uns, wie wir uns hier so unterhalten, jemand, der eigentlich von irgendwo anders herkommt. Und so kommt man in diese «Camenisch-Welt» hinein. (lacht) Und da ist wieder dieses Radio mit der kaputten Antenne, das man ja auch bereits kennt. Überall sind feine Fäden gespannt, alles ist im einzelnen Text miteinander und mit den anderen Büchern verbunden. So ergibt das ein grosses Netz.

Das grosse Netz ist ein gutes Stichwort. Sie haben mittlerweile an über 180 Orten weltweit vorgelesen, in letzter Zeit beispielsweise in Italien, Ungarn, China, Irland, Deutschland und Litauen. Was macht Ihre Werke für so verschiedene Leute zugänglich?

Was einen Text meiner Ansicht nach universell macht und ihn öffnet, sind die Figuren, die Charaktere. Was mich an den Figuren interessiert, sind ihre Stärken und Schwächen, ihre Zweifel und Freuden, ihre Widersprüchlichkeit, ihre Verletzlichkeit. Erst die Verletzlichkeit der Figuren macht sie für uns Leser, egal wo sie leben oder herkommen, zugänglich. Wesentlich dabei ist die Haltung, die ich als Autor meinen Figuren gegenüber habe. Ich kommentiere nicht, werte nicht.

Aber kann ein chinesischer Grossstädter in Macao die von Ihnen beschriebene Welt wirklich verstehen, beispielsweise das Dorfleben im 40-Seelen-Fleck Tavanasa der 1980er Jahre, das Sie in «Hinter dem Bahnhof» beschreiben?

Hm, das ist jetzt aber schon das extremste Beispiel. Keine Ahnung, was in den Köpfen der Leute in Macao vor sich ging. Ich hatte das Gefühl, die Leute würden zuhören. Ein möglicher Zugang ist vielleicht der Klang, die Intonation, wer weiss. In meinen Texten ist das ja ein wichtiger Aspekt. Manchmal fragen mich auch Leute, für wen ich schreibe. Da kann ich nur sagen: Ich habe kein Zielpublikum und frage mich auch nicht, wie meine Texte wo und von wem gelesen werden.

Besteht bei Ihren Themen, Figuren und Orten – Älplerleben, Dorfkindheit, Stammtischgespräch – nicht die Gefahr, dass im Ausland eine Heidiwelt in Ihre Werke projiziert wird, die keineswegs als Heidiland gemeint sind?

Schlussendlich ist es Sache der Leser, was sie mit den Texten machen. Das kann ich nicht beeinflussen. Klar, haben Leute aus anderen Kontexten vielleicht ihre eigenen Bilder der Schweiz im Kopf. Auch ich habe verzerrte Bilder über andere Orte im Kopf, solange ich diese Orte nicht gut kenne. Aber dass es sich in meinen Büchern nicht um eine Idylle handelt, wird, glaube ich, schnell klar. Es gibt auch Leute, die mir sagen, die Geschichten seien ihnen zu heftig und rauh.

Und was passiert, wenn jemand Sie als Heimatschriftsteller bezeichnen würde?

Sobald ein Buch in den Schweizer Bergen spielt, kommt diese übertriebene Idee von «Heimat» auf. Da kommt den Leuten eben die liebe Heidi in den Sinn. Das hat wohl mit unserer ideologisch besetzten Wahrnehmung der Alpen zu tun. Dabei hat einfach jeder irgendwo einen Ort, woher er stammt. Ich rede deshalb viel lieber von Herkunft anstatt von Heimat. Woher wir kommen, ist für mich völlig losgelöst von Ländern, Grenzen, Regionen. Es gibt einfach einen Ort, eine Stadt, eine Ebene, wo wir aufgewachsen sind. Und dieser Ort hat unseren Blick auf die Welt geprägt. Ich bin nun einmal in Graubünden aufgewachsen, das ist ein Teil von mir. Einer, der aus Basel stammt und über Basel schreibt, der schreibt auch einfach über seine «Heimat». Das ist so eine komische Idee, dass etwas Urbanes weniger «Heimat» wäre.

Eine ganze Generation von Schweizer Literaten beklagte die «Enge» der heimischen Gefilde und brach ins Ausland auf oder forderte sogar die Sprengung der geistigen Bergschranken. Was animiert Sie, die Provinz zum Gegenstand Ihrer Bücher zu machen?

Die Literatur öffnet im besten Falle neue Welten. Damit sie das tun kann, muss sie wissen, wovon sie redet. Für andere eine neue Welt auftun kann ich nur, wenn ich über etwas schreibe, das ich sehr gut kenne. Vielleicht muss man einige Zeit weg gewesen sein, um über eine bestimmte Gegend schreiben zu können. Ich war fünf Jahre im Ausland, lebe schon seit über 10 Jahren nicht mehr in Graubünden. Ob mir ein Text gelingt, hängt davon ab, ob ich die richtige Distanz zum Stoff habe. Erst wenn ich also eine Konstellation kenne und genau weiss, wie sie sich anfühlt, kann ich das Ganze wirklich präzise beschreiben und von verschiedenen Seiten her beleuchten.

Ist Tavanasa Ihr literarischer Referenzraum?

Tavanasa ist zunächst einmal ein schönes Wort. Das hat vier «a», ein Wort mit vier «a» muss man zuerst einmal finden. Auch in der Surselva liebt man sich, weint man, hofft und flucht man. Ich schreibe in erster Linie über den Menschen und darüber, wie die Menschen miteinander umgehen. Aber natürlich, meine Texte sind in der Surselva verortet. Heimweh nach Graubünden habe ich deswegen noch lange nicht. Ich bin sehr gerne in der Surselva, und nach drei Tagen fahre ich auch gerne wieder weg. Natürlich, die Topographie, die Wälder, die Felsen, die Materialien, die uns umgeben – das alles beeinflusst die Art, wie wir sind, wie wir denken und sprechen. Ich arbeite auch bewusst damit. Ich habe den Sound der Leute aus der Surselva im Ohr, ich kenne ihre «Codes».

Ihr erstes Buch publizierten Sie auf Rätoromanisch, Ihr zweites, «Sez Ner», war zweisprachig und zu Ihrem letzten, «Fred und Franz», ist ein in Ihren Worten «verbrüdertes» Buch mit dem Titel «Las flurs dil di» erschienen. Sind Sie als rätoromanischer Autor auch ein Botschafter des Rätoromanischen?

Nein. Ich liebe diese Sprache einfach, es ist die Sprache meines Herzens. In einem Buch habe ich mal irgendwo geschrieben: lieben und sterben tut man in der Muttersprache, ich tue das also auf Romanisch. Ich bin aber kein Botschafter des Rätoromanischen, ich teile auch nicht das Pathos der «sterbenden Sprache». Eine Sprache wandelt sich. Mich interessiert, wohin die Sprache wandelt.

Was verändert sich für Sie, wenn Sie Rätoromanisch oder Deutsch schreiben?

Ich sitze an zwei verschiedenen Orgeln, arbeite mit anderen Registern. Wichtig beim Orgelspiel ist aber, dass einem nicht die Luft ausgeht. Was ich sagen will: Ich bewege mich in zwei literarischen Welten, und jede Sprache setzt einen anderen Zugang voraus. Wenn ich auf Deutsch schreibe, setze ich andere Akzente, als wenn ich auf Romanisch schreibe. Romanisch ist eine sehr mündliche Sprache, daher gehe ich beim Schreiben romanischer Texte auch stärker vom Gesprochenen aus. Im Deutschen liegt der Fokus stärker auf der Bildsprache, und ich arbeite dann zurückhaltender mit Farben oder Tonalitäten aus anderen Sprachen.

Sie heimsen hier wie jenseits der Grenze einen Preis nach dem anderen ein und halten Lesungen in ausverkauften Sälen. Fühlt man sich da schon fast wie ein Popstar?

Nein. Ich mache einfach gerne Lesungen und freue mich, wenn die Leute kommen und einen schönen Abend verbringen. Nichts ist selbstverständlich, ich bin dankbar, dass es gut läuft, und geniesse es. Ich bin gerne auf der Bühne. Mir gefällt das, was da entsteht. Dieser Moment, den man teilt. Man ist zwar viel unterwegs, das Reisen ist etwas anstrengend, aber wenn man einmal dort ist, fägt’s. Auf der Bühne bin ich ganz bei mir, ganz bei der Sprache.

Besteht dann bei den vielen Preisen nicht die Gefahr, dass es immer weniger um das Werk und immer mehr um den Autor geht?

Wer Bücher publiziert, will, dass diese Bücher gelesen werden. Ein Preis hilft, ein Publikum zu erreichen. Das Schlimmste für einen Autor ist, wenn er seine Werke überlebt.

Vor zehn Jahren haben Sie als unbekannte junge Stimme einen Publikumspreis an den rätoromanischen Literaturtagen in Domat/Ems erhalten, heute haben Sie über 35 000 Bücher verkauft, wurden in knapp 20 Sprachen übersetzt und verschiedentlich ausgezeichnet. Wie geht Ihr Weg weiter?

Schreiben ist wie Schlitteln: Beine hoch und laufenlassen. Wenn ein Buch erscheint, ist das aufregend. Aber man muss lernen, es dort sein zu lassen, wo es ist – loslassen und vorwärtsschauen. Ich stehe am Anfang, bin noch jung. Gewissenhaft arbeiten, dranbleiben, sich nichts darauf einbilden, einfach weitermachen, immer weiter.

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