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Des Gauklers neue Kleider

Des Gauklers neue Kleider

Buch des Monats

Wir begriffen mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, wie das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht; wie es wäre, so ein Mensch zu sein, begriffen wir, und wir begriffen, dass wir nie solche Menschen sein würden.» Der «berühmte Spassmacher» Tyll Ulenspiegel tritt in einem Dorf auf und lässt die Zuschauer staunen. – Daniel Kehlmann widmet dem wohl populärsten Narren der deutschsprachigen Literatur seinen neuen Roman und öffnet das breite Panorama eines grandiosen erzählerischen Spiels mit historischer Realität. Den realen Till Eulenspiegel des 14. Jahrhunderts, der um 1510 in einer anonym erschienenen Schwanksammlung zum ersten Mal die Literaturbühne betritt, versetzt Kehlmann in das 17. Jahrhundert, in die Zeit des Dreissigjährigen Krieges. So präsentiert sich Tyll als eine bunte, scheinbar schwerelos auf dem Hochseil tanzende Kontrastfigur, die in einer von gewaltigen Umbrüchen und Unsicherheiten, von (glaubens)kriegerischer Zerstörung und grossen Welträtseln geprägten trüben Zeit sein Recht auf Narrenfreiheit bewahrt, das gepeinigte Volk mit seinen künstlerischen Darbietungen unterhält und der Gesellschaft einen aufklärenden Spiegel vorhält.

Wie andere Romane Kehlmanns thematisiert «Tyll» die «Erfindung von Wirklichkeit», wobei die ambivalente Macht einer Literatur demonstriert wird, die nicht nur alternative, magische Wirklichkeiten projiziert, sondern ebenso als Medium der Verfälschung, der Täuschung und Lüge – heute der «Fake News» – fungiert.

In der (fiktiven) «Realität», in die Kehlmann seinen Protagonisten schickt, sind es Tylls Begegnungen mit verschiedenen historischen wie erfundenen Figuren, die die Geschichte, als Fabel und Historie, verlebendigen und die Handlung spannend und unterhaltsam vorantreiben. Zentrale Figuren sind der universalgelehrte Jesuit Doktor Athanasius Kircher, eine berühmte historische Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts, der korpulente, schriftstellernde Graf Martin von Wolkenstein, ein fiktiver Nachfahre des berühmten Minnesängers Oswald von Wolkenstein, sowie der «Winterkönig» Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz und von 1619 bis 1620 König von Böhmen, und seine Gattin Elisabeth Stuart, Enkelin der Schottenkönigin Maria Stuart. – Kehlmann und sein Narr entlarven Athanasius Kircher und Martin von Wolkenstein als literarische bzw. wissenschaftliche Schwindler, die in ihren Schriften die Wahrheit fälschen, verheimlichen oder fingieren.

Dass Kehlmann sich bei aller erzählerischen Fiktion durchaus auch am alten Eulenspiegel-Volksbuch orientiert, zeigt sich in einer Schlüsselszene des Romans, als Tyll, nun «Hofnarr», der exilierten «Winterkönigin» Elisabeth ein Bild schenkt, das seltsamerweise nur aus einer weissen Leinwand besteht. Der Narr gibt dazu die Erklärung: «Es ist magisch […]. Wer unehelich geboren ist, kann es nicht sehen. Wer dumm ist, sieht es nicht. Wer Geld gestohlen hat, sieht es nicht. Wer Übles im Schild führt, wer ein Kerl ist, dem man nicht trauen kann, wer ein Galgenvogel ist oder ein Stehlvieh oder ein Arsch mit Ohren, der sieht es nicht, für den ist da kein Bild!» Dass der Romanautor hier die 27. Geschichte der ersten Eulenspiegel-Schwanksammlung aufgreift, verwundert sicherlich nicht. In paradigmatischer Weise offenbart sich in dieser Szene der gewitzte, spitzfindige und schalkhafte Charakter Tylls, der die Gesellschaft mit ihrer falschen Moral, ihren Lügen, Bosheiten und Dummheiten demaskiert. Das leere weisse Bild ist ein aufklärender Spiegel der (Selbst-)Erkenntnis; es ist aber ebenso ein Plädoyer für die Macht der Phantasie, eine Projektionsfläche für die inneren Bilder, die den Betrachter dazu auffordert oder zwingt – will er sich nicht als ein uneheliches Kind, als ein Gauner oder als ein Simpel bekennen –, seine Vorstellungskraft zu aktivieren, Imaginationen zu entwickeln.

Kehlmanns Roman schafft genau dies in beeindruckender Weise: Phantasien der Leser anzuregen, den Vorstellungen des grossen Schalks weite Imaginationsräume zu bieten.

Buch:  Daniel Kehlmann: Tyll. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2017.

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